Älterer nachdenklicher Handwerker in der Kfz-Werkstatt. Bild: liderina / stock.adobe.com
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Nur "schlecht drauf"?

Archivbeitrag | Newsletter 2020

Kein Einzelfall: Dachdeckergeselle Norbert Müller* ist Handwerker mit Leib und Seele. Seit 15 Jahren ist er Aktivposten in der Leipziger "Dach vom Fach GmbH"*. Ein typischer Vertreter seiner Zunft. Von Kollegen wird er aufgrund seiner Expertise, seiner präzisen Arbeit und Hilfsbereitschaft geschätzt. Dazu ist er ein geselliger Typ, der sich gern unterhält und immer einen Spruch auf den Lippen hat. Einer mit dem man gern ein Bier trinken geht. Seine Art kommt auch bei den Kunden an und der Chef ist froh, ihn im Team zu haben.

Seit März scheint Müller aber nicht mehr "der Alte" zu sein, stellen seine Kollegen fest. Er wirkt in sich gekehrt, grüßt zwar wie immer freundlich, ist aber deutlich ruhiger und weniger gesprächig. In den Pausen sagt er kaum ein Wort, wirkt abgeschlagen. "Ich schlafe schlecht und habe einfach gerade keine richtige Lust. Liegt sicher an diesem Corona-Jahr", kommentiert er knapp auf Nachfrage. Aber es passieren ihm auch häufiger Fehler beim Arbeiten als sonst. Normalerweise ist er konzentriert und zuverlässig bei der Arbeit. Einmal reagiert Müller extrem gereizt, als er eine Abdichtung vergessen hat. Einen schwierigen aber wichtigen Kunden blafft er unvermittelt an – obwohl er sonst selten aus der Ruhe zu bringen ist. Zum Feierabend bleibt er kaum noch auf einen Kaffee oder Getränk bei den Kollegen, sondern fährt direkt nach Hause. Wie sich im Oktober herausstellt, ist es nicht nur dieses verrückte Jahr, das Müller beeinflusst.

Er leidet an einer tückischen Krankheit.

*Namen geändert.


Trotz insgesamt sinkender Krankenstände hat sich der Anteil psychisch bedingter Fehlzeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast verdoppelt, und es werden zunehmend mehr Menschen aufgrund einer psychischen Erkrankung erwerbsunfähig.

Mit durchschnittlich 35 Tagen Arbeitsunfähigkeit fallen Menschen mit psychischer Erkrankung zudem mindestens eine Woche länger aus als körperlich Kranke (BPtK, 2018). Das kann insbesondere kleinere Unternehmen aus dem Handwerk vor große Herausforderungen stellen, da längere Ausfälle von Mitarbeitern schlechter kompensiert werden können.
 

Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen

In Betrieben besteht zudem häufig Unsicherheit im Umgang mit Mitarbeitern, die von Depression betroffen sind. Dabei können verantwortungsbewusste Vorgesetzte und aufmerksame Teammitglieder im Hinblick auf Depression einen entscheidenden Beitrag leisten. Sie können Kollegen dabei unterstützen, in professionelle Behandlung bei einem Fachmediziner oder Hausarzt zu kommen.
 

Professionelle Behandlung nötig

Denn Depressionen sollten wie andere Erkrankungen auch professionell und möglichst zeitig behandelt werden. Das wird noch nicht immer als selbstverständlich angesehen. Aber für Depression gilt dasselbe wie für beispielsweise Diabetes oder Rückenschmerzen: Der Gang zum Arzt ist unverzichtbar und gut gemeinte Ratschläge wie "Das wird schon wieder", "Wir haben alle mal einen schlechten Tag" helfen nicht – im Gegenteil. Eine Depression ist etwas anderes als ein vorübergehendes Stimmungstief. Schlecht gelaunt oder angespannt ist jeder mal. Depression ist jedoch eine ernste Erkrankung.

Zu den Kernsymptomen gehören der Verlust von Freude und Interesse. Dinge, die normalerweise Freude bereiten, lösen diese Gefühle nicht mehr aus. Das Interesse an Hobbys geht zum Beispiel verloren oder das erfüllende Gefühl, nach getaner Arbeit stellt sich nicht mehr ein. Weiterhin ist die Stimmung gedrückt und niedergeschlagen. Manche Patienten berichten, dass sie irgendwann gar nichts mehr fühlen. Ein gestörter Antrieb führt dazu, dass sich Betroffene nur schwer aufraffen können und selbst die Erledigung alltäglicher Dinge wie Einkaufen, Aufräumen kann große Überwindung kosten, schnell zu Ermüdung führen. Zu den Zusatzsymptomen gehören: verminderte Konzentration und Gedächtnisschwierigkeiten, ein vermindertes Selbstwertgefühl sowie Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit. Häufig entsteht der Wunsch, dieser als ausweglos empfundenen Situation irgendwie zu entkommen, bis hin zu dem Gedanken, sich etwas anzutun. Auch Schlafstörungen, ein verminderter Appetit und Gewichtsverlust können Anzeichen einer Depression sein. Bei Männern ist zum Teil auch gereiztes, aggressives Verhalten zu beobachten.
 

Auf diese Symptome können Vorgesetzte achten

Neben den Problemen, die für den Betroffenen selbst entstehen, kann eine depressive Erkrankung auch negative Effekte auf den betrieblichen Alltag haben. Die Arbeitsgeschwindigkeit und -qualität sinken beispielsweise, es muss öfter nachgebessert werden oder Kollegen fallen aus.

Nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern auch vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt her sollten Vorgesetzte folglich dafür sensibilisiert sein, dass Leistungsminderung, erhöhte Leistungsschwankungen, eine hohe Fehlerquote und Flüchtigkeitsfehler durch verminderte Konzentrationsfähigkeit auf eine Erkrankung hindeuten können. Betroffene fragen manchmal auch häufiger nach, vergewissern sich vermehrt bezüglich ihrer Arbeitsergebnisse oder kontrollieren diese stärker als sonst.

Entscheidend ist, dass es sich um Veränderungen handelt, das heißt Mitarbeiter zeigen ein Verhalten, dass man aus anderen, gesunden Zeiten nicht kennt. Auch häufigere Unpünktlichkeit, vermindertes Durchhaltevermögen oder die verspätete Abgabe von Krankmeldungen und unentschuldigtes Fehlen können auf eine Depression hindeuten. Zieht sich ein sonst eher geselliger Kollege aus gemeinsamen Mittagspausen und Aktivitäten mit den Betriebskollegen zurück, wirkt stets angespannt, vermeidet Blickkontakt und Gespräche, dann sind auch diese Veränderungen mögliche Hinweise auf eine Depression.
 

Veränderungen ansprechen und Hilfe empfehlen

Solche Verhaltensänderungen sollten Vorgesetzte und Kollegen ernst nehmen und ansprechen. In einem Gespräch unter vier Augen geht es nicht darum festzustellen, ob eine Depression vorliegt. Vielmehr geht es darum, die Situation besser einschätzen zu können und herauszufinden, ob zusätzliche Hilfe notwendig ist.

Sollte sich ein Mitarbeiter nicht im ersten Gespräch öffnen – und das ist nicht ungewöhnlich, schließlich ist dies ein Gespräch mit dem Vorgesetzten beziehungsweise Kollegen und das Thema sensibel – dann kann das Gesprächsangebot wiederholt werden. So ein erstes Gespräch kann verschiedene Ergebnisse haben. Möglicherweise ist der Mitarbeiter mit derzeitigen Aufgaben überfordert, es gibt Probleme mit Kollegen oder privater Natur. Sollte aber der Verdacht auf Depression bestehen bleiben, dann sollte man dem Mitarbeiter nahezulegen, zeitnah zum Arzt zu gehen und sich untersuchen zu lassen. Der Hausarzt kann auch bei Verdacht auf Depression als erste Anlaufstelle empfohlen werden. Mögliche Indizien auf Depression kann auch ein Selbsttest der Stiftung Deutsche Depressionshilfe geben (Kasten). Dieser kann zwar kein Gespräch mit einem Arzt ersetzen, den Verdacht jedoch erhärten.
 

Volle Leistungsfähigkeit nach der Behandlung

Sowohl Erkrankte wie auch Vorgesetzte und Kollegen sollten wissen, dass Depressionen gut behandelbar sind und meist zum Abklingen gebracht werden können. Die Betroffenen sind dann wieder so leistungsfähig wie zuvor. Die beiden wichtigsten Bausteine sind die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva und die Psychotherapie. Viele glauben, dass Antidepressiva abhängig machen. Aber das ist ein Irrglaube. Sie normalisieren lediglich nach und nach die Funktionsabläufe und den Stoffwechsel im Gehirn. Psychotherapie kann für die Akutbehandlung leichterer bis mittelschwerer Depressionen sinnvoll sein und ebenfalls das Rückfallrisiko senken. 

Gastbeitrag der Stiftung Deutsche Depressionshilfe / Diplom-Psychologin Ines Heinz